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Alltägliche Erfahrung und wissenschaftliche Erklärung

Helmut Pape • Helmut Pape leitet in die Wissenschaftstheorie ein   (Last Update: 27.03.2014)

Spüren, Wahrnehmen und Wissen: Die alltägliche Situation des Erkennens

Warum allein das alltägliche Leben und alltägliche Erfahrungen der Erkenntnis und den Wissenschaften ihren Sinn und Zweck verleiht

In diesem ersten Teil will ich Sie zu dem Thema, Gegenstand und der Fragestellung dieser Vorlesungsreihe hinführen und Ihnen einen Überblick über das geben, was Sie in den nächsten 14 Vorlesungen erwartet. Was ich aber nicht tun werde, kann ich Ihnen gleich zu Anfang sagen: Diese Vorlesung wird, trotz etlicher historischer Anknüpfungen, keinen Überblick über die verschiedenen Richtungen der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie geben, die in der Geschichte der Philosophie und Wissenschaft vertreten worden sind. Diese schwer eingrenzbare, auf jeden Fall unüberschaubare Geschichte ist bereits von anderen, wenn auch immer nur unvollständig erzählt worden. Ich verweise nur auf Ernst Cassirers epochales, auch heute immer noch in Detail wie im philosophischem Blick konkurrenzloses vierbändiges Werk “Die Geschichte des Erkenntnisproblem in der Philosophie der neueren Zeit”, dessen erster Band 1910 erschien.

Einerseits werde ich nicht das hohe Lied vom Fortschritt und alles allein erkennenden Leistung der Wissenschaften, der Naturwissenschaften insbesondere oder der Philosophie anstimmen; andereseits werde ich mich aber auch nicht an dem inzwischen modischen Lamento beteiligen und alle Wissenschaft und Rationalität verdammen. Denn wir dürfen nicht vergessen, daß fast sieben Milliarden Menschen heute - mehr oder weniger - von der Naturwissenschaft und Technik leben, und daß nichts dafür spricht, daß sich das ändern läßt. Daß ist aber auch kein Freibrief für eine Abkapselung, gar kriterien- und reflexionslose Entwicklung des wissenschaftlichen, insbesondere naturwissenschaftlichen Wissens und deren Anwendung. Die Frage nach der Autorität und dem Anspruch wissenschaftlichen Wissens lautet deshalb: Was können wir wissenschaftlich wissen und wie verhält sich dieses Wissen zu anderen Formen des Wissens? Dies ist eine Frage, die nicht dadurch schon entschieden ist, wenn wir zugeben, daß für viele Gegenstandsbereiche - wie z.B. Physik der Elementarteilchen und Molekulargenetik - allein die Naturwissenschaften kompetente Antworten liefern. Denn daraus folgt nicht, daß nun alle Bereiche und Themen allein durch naturwissenschaftliche Methoden und Ergebnisse entscheidbar sind.

Mir wird es darum gehen, Ihnen im Detail und mit guten Argumenten von alltäglichen Erfahrung und Fähigkeiten aus aufzuzeigen, daß wir als normale Alltagsmenschen Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie nutzen können, um unseren eigenen Weg zum Verstehen von dem zu finden, was Erkenntnis im alltäglichen Leben, im Traum, in der Kunst und eben auch in den Naturwissenschaften für uns bedeutet. Ich werde darauf bestehen, daß das nicht anders geht als dadurch, daß wir philosophische und naturwissenschaftliche Auffassungen über Erkenntnis und Wissen für kritisch beurteilen. Nämlich indem wir sie abwägend, vergleichend, auf unsere Interessen als Menschen beziehen, die wir in modernen, postindustriellen Kulturen auf menschenwürdige Weise überleben und leben wollen. Dies ist dadurch möglich, daß wir uns einen eigenen, auf unsere heute alltäglichen Erfahrungen und Interessen bezogenen Weg des kritischen Verstehens bahnen, ja erkämpfen und erobern. Was dabei dies „Eigene“ und „Alltägliche“ für uns heutige Menschen bedeuten kann, ist eines der Themen dieser einführenden Vorlesungen. Natürlich werde ich einige der “alten Fragen” stellen, aber ihnen einen neuen Sinn zu geben versuchen. Ich werde fragen:


- Was ist Erkenntnis und was ist Wissen?
- Wie können wir begründen und einsehen, daß eine Meinung so sicher ist, dass wir ihrer gewiß sind, daß sie als ein verläßlicher Bestandteil des Wissens gilt?
- Warum gibt es „wirkliches Wissen und Erkenntnis“ nicht nur in den Wissenschaften?

- Was kann es für uns bedeuten, etwas zu verstehen oder wissenschaftlich zu erklären? Kann unser Verstehen mit dem wissenschaftlichen Erklärungen zusammenfallen?

Wie wir sehen werden, wäre eine Eingrenzung von Erkenntnis und Wissen auf die Wissenschaften nicht nur falsch, sondern irreführend. Ja, es würde sogar unser Verstehen der Bedeutung der wissenschaftlichen Erkenntnisleistung beschädigen. Denn Selbstüberschätzung, macht wie jede Form der Überheblichkeit, blind gegen das, was andere können. Daß die Wissenschaft überhaupt die einzig legitime Form des Erkennens ist, daß nur die Wissenschaften und insbesondere die Naturwissenschaften, beurteilen können, was wirklich ist und was nicht. Diese Ansicht wird nicht nur von vielen Wissenschaftlern, sondern auch in vielen Büchern über Wissenschafts- und Erkenntnistheorie vertreten. Doch in dieser Vorlesung gehört sie nicht zu den Annahmen und Urteilen über Erkenntnis und Wissenschaft, von den die ich aus gehen oder die ich für richtig und begründbar halte. Doch um auf unsere Frage nach dem Begriff des Wissens zurückzukommen: Ich möchte keine neue, strikte Definition von dem vorschlagen, was Wissen und Erkennen „wirklich ist“.


Bitte beachten Sie, daß gerade dem Begriff „Erkenntnis“ eine Doppeldeutigkeit eigen ist: Wir bezeichnen sowohl den Prozeß, durch den etwas erkannt wird wie das Produkt dieses Prozesses, nämlich das Wissen, als „Erkenntnis“.

Doch welchen Anspruch können wir für die Geltung unserer Erkenntnisse erheben? Ich denke, daß wir niemals zu einer Meinung gelangen, die ein unumschränkt gültiges, objektives Wissen ist: Nämlich auf alle Zeiten hin unanfechtbar wahr und unerschütterlich begründet, so daß wir auch noch wissen, daß sie objektiv wahr ist. Denn das sind zwei Schritte, die wir auseinander halten und nicht gleichsetzen sollten: Ich kann überzeugt sein, daß Grass grün ist, ohne auch deshalb schon zu wissen oder gar begründen zu können, daß die Aussage „Grass ist grün“ objektiv und für alle Zeiten wahr ist.

Doch wie kann ich Ihnen sagen, was Erkenntnis und Wissen ist, ohne doch wieder auf eine Definition zurückzugreifen, ohne bereits eine Definition von Wahrheit und Objektivität vorauszusetzen? Es ist einfacher als Sie vielleicht denken, ohne eine solche explizite Definition auszukommen. Denn wir können unsere Überlegungen mit Fällen von Wissen beginnen, - z.B. daß Gras grün ist, die wir jetzt zweifelsfrei vor uns haben. Etwa so: Nicht nur ein wenig, sondern unabsehbar viel, haben Sie bereits erkannt und als Wissen zur Verfügung, wenn Sie den Weg in diese Vorlesung gefunden haben. Wenn Sie diese ersten Sätze verstanden haben - wenn Sie jetzt also wissen, was ich soeben gesagt habe -, so ist dies nur möglich, weil Sie vielmehr als nur die deutsche Sprache beherrschen und kennen. Sie können nämlich mit Ihren Sprachkenntnissen nur deshalb richtig - nämlich für andere Menschen verständlich sprechend - umgehen, weil sie eine große Menge an unausgesprochenen, stillen nicht-sprachlichen Wissen erworben und zu ihrer Verfügung haben. Z.B. darüber, was es heißt, in dieser Zeit als Deutscher oder Deutsche zu leben, Geld zu verdienen, Bafög zu beantragen, Sohn oder Tochter zu sein, Kenntnisse und gar Bildung zu erwerben. Erkennen, Wissen und Leben sind so eng miteinander verknüpft, daß es vielen von schwerfallen dürfte, hier ein aufklärungsbedürftiges Problem zu sehen. Für die Selbstverständlichkeit unseres Alltagswissens gilt Wittgensteins Satz „Die für uns wichtigsten Aspekte der Dinge sind durch ihre Einfachheit und Alltäglichkeit verborgen. (Man kann es nicht bemerken, - weil man es immer vor Augen hat.)“ (Philosophische Untersuchungen, § 129)


Doch habe ich indirekt damit bereits eine philosophische Aufgabe beschrieben: Sie besteht zu einem Teil darin, dieses Selbstverständliche und Alltägliche des Erkennens und Wissens auf die richtige Weise explizit zu machen indem wir es begrifflich fassen und uns verständlich machen. Was die traditionelle Erkenntnistheorie häufig ausschließt, ist also Ausgangspunkt. Ich bin überzeugt, daß die praktische Kompetenz des „Gewußt-wie“ der Ausgangspunkt unserer Überlegungen sein sollte, wenn wir Erkenntnistheorie betreiben. Das theoretische Wissen der Wissenschaften ist nur propositional. Es ist ein „Wissen, daß-etwas-so-und-so-ist“. Wenn es sich nicht in das „gewußt-wie“ einer Erkenntnis- und Wissenspraxis umsetzen läßt, bleibt es nicht nur unbegründet, sondern gleichsam esoterisch: Eine Wolke von Wortkunstwerken.
Soviel zu den scharfen Abgrenzungen. Natürlich liegen die Dinge - wie wir noch genauer sehen werden - weitaus komplizierter. Denn es gibt ja auch ein „gewußt-wie“ der Wissenschaft - nämlich Experiment und Technologie -, das inzwischen das Handeln des Alltags vielfach überlagert und verändert. Zwar gilt immer noch jener Satz Wittgensteins „Alle Begründungen enden irgendwo. Und dann handeln wir.“ Aber ist nicht in der Praxis des Handelns und der Prüfung der Ergebnisse, unserer Handlungserfolge, schon immer auch die Korrektur unserer praktischen Kompetenz mit angelegt? Ist das Bestehen auf dem Primat der praktischen Kompetenz tatsächlich die richtige Weise Erkenntnis und Wissen verständlich und damit rational zugänglich zu machen? Was ist es, was wir darstellen und erklären sollten, damit wir vielleicht sogar unsere Fähigkeit, Kenntnisse und Wissen zu erwerben besser einsetzen, durch Lernen weiter entwickeln und verbessern können?
Mit diesen Sätzen wollte ich zum einen auch darauf aufmerksam machen, daß die Verbesserung der Erkenntnisfähigkeit und die daraus resultierende Vermehrung des Wissens wertvoll und somit anstrebenswert ist, daß Sie aber andererseits auch bereits über einiges an Wissen praktisch verfügen und daß dieses praktische Wissen dem theoretischen Wissen voraus liegt und in diesem Sinne umfassender ist. Auch deutete ich an, daß das Interesse an der Verbesserung und Vermehrung des Wissens ebenso im alltäglichen Wissen angelegt ist. Wir stehen also vor der Aufgabe, die Regulierung, Korrektur, Verbesserung und Veränderung des praktisch ausgewiesenen Wissens selbst als ein Teil von gelingender Praxis zu erläutern. Wenn das gelingt, wird zum anderen sich daraus selbst eine Kompetenz für das Beurteilen des Bereichs und der Bedeutung wissenschaftlicher Ansprüche auf Kontrolle und Herrschaft über unser Leben sich ergeben müssen.


Lassen Sie mich diesen letzten, etwas unklaren Punkt anhand einer anderen Frage ergänzen: Ist es nicht manchmal besser, nichts oder nicht alles zu wissen? Zeigen nicht die Atombombe, die Umweltverschmutzung und die genetischen Manipulationen an Lebewesen, ja sogar Menschen, daß es Wissen und technologische Verfahren gibt, die schädlich sind? Zwar schützt in den Rechtsverhältnissen, die der Staat mit Strafe bewährt hat, Unwissenheit vor Strafe nicht. Ansonsten aber interessieren wir uns im Alltag nur für das Wissen, was uns weiterhilft, nützt oder auf irgendeine andere Weise fruchtbar mit dem verknüpft werden kann, was wir tun. Sicher, einige von uns haben sehr spezielle Interessen ausgebildet. Da gibt es diejenigen, die leidenschaftlich an der Biologie und Anatomie der Spinnen, der Kunst der Renaissance in Oberitalien gegen Ende des 15. Jahrhunderts, an den Romanen von Marcel Proust oder den christlichen Häresien und Hexen im Mittelalter interessiert sind. Und die Ergebnisse, die solche engagierten Amateure erzielen, sind häufig sogar nach wissenschaftlichen Standards bedeutungsvoll - sie wirken zurück auf die Wissenschaften. Das Phänomen der Amateure ist für unsere einleitenden Erwägungen zur Erkenntnistheorie in zweierlei Hinsicht wichtig. Was die engagierten Laien zeigen, ist zum einen, daß sie
1.) über die normale, durchschnittliche Ausprägung von Interessen bei den meisten anderen Menschen weit hinausgehen können - und trotzdem interessierte Laien bleiben. Es scheint als ob sie einen Weg gefunden haben, einen anderen, ihren eigenen Weg zur Erkenntnis zu finden.
Wichtiger aber ist noch für unsere Frage nach den Rückbezug auf die kompetente, kritische Praxis
2.) daß sie zeigen, daß es einen wirksamen Zusammenhang zwischen individueller Motivation und Erkenntnis gibt, der für alle Arten von Erkenntnis - ob alltäglich, religiöser oder wissenschaftlich - wichtig ist und der schon als Antrieb und Korrektiv von Wissenschaft im Alltag angelegt ist: Die Motivation des Einzelnen, die Stärke seines individuellen Erkenntnisinteresses.


Man kann sagen: Der Grad und die Fokussierung eines Interesses oder einer Absicht bestimmt häufig das Ausmaß der Anstrengung, das in ein Thema investiert wird. Diese Einsicht ist z.B. von Jürgen Habermas in seinem Buch „Erkenntnis und Interesse“ eher soziologisch-abstrakt an philosophische Positionen herangetragen worden. Einen noch dichteren Zusammenhang zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und dem Interesse des Einzelnen am Erkenntniserwerb, nimmt der amerikanische Philosoph C.S. Peirce an. In Peirces Erkenntnistheorie - er nennt sie Logik, manchmal auch direkt „logic of science“ - geht alle Wissenschaft und Philosophie auf den Wunsch zum Lernen zurück. Er behauptete deshalb sogar, daß es in einer Hinsicht nur eine Regel der Logik gibt, „daß man, um zu lernen, den Wunsch haben muss zu lernen, und sich dabei nicht mit dem zufriedengeben darf, was man schon zu denken geneigt ist.“ (DLU, S. 241) Das Lernen sollte nach Peirce immer weiter fortschreiten dürfen: „Behindere niemals den Gang der Forschung“ ist deshalb eine von Peirces wissenschaftshteoretischen Maximen.


Wir wollen nun dem Gedanken der direkten Korrektur und Eingrenzung von Wissenschaft durch das alltägliche Urteilen und Denken nachgehen. Ein solches begrenzendes Urteil über Wissenschaft zeigt sich z.B. in der Frage, ob die Wissensvermehrung tatsächlich, wie Peirce meint, immer anstrebenswert, wertvoll und in unserem Interesse? Wir haben heute, ich erwähnte es schon, einige begründete Zweifel. Zum einen kann niemand von uns alles wissen - nicht einmal alles von dem, was heute an Wissen existiert, geschweige denn „alles“ im Sinne von „alles Wissbare“. Außerdem haben naturwissenschaftliche Ergebnisse, gerade weil sie richtig waren, die materiell-technische Grundlage für die Katastrophen der Moderne gelegt.


Drittens träumen in den heutigen komplizierten Industriegesellschaften einige von uns von einem Zustand der Unschuld ohne Erkenntnis: Wie schreibt schon die Bibel? Wenn ich nicht vom Baum der Erkenntnis esse, dann kann ich auch nicht sündigen. Adam konnte erst nachdem er den Apfel vom Baum der Erkenntnis gegessen hatte zwischen Gut und Böse, zwischen Wahr und Falsch, unterscheiden. Wir können zwar nicht zu dem Zustand der Unschuld zurück, weil wir - diese 7 Milliarden Menschen auf dieser Erde - von unserem Wissen, nämlich den Technologien, die uns die Wissenschaften zur Verfügung stellen, leben. Im wörtlichen Sinne: Von der Nahrung über die Kleidung bis zu den Fortbewegungsmitteln, geht für 80 % der Menschen kaum mehr etwas ohne technologisch geformte Produkte. Die sogenannten unterentwickelten Länder verstehen ihren Zustand so, daß sie ihn durch den Mangel an wissenschaftlicher Technologie beschreiben.
Doch brauchen wir Wissen und Wissenschaft immer, überall und in jeder Hinsicht? Das wäre nur dann der Fall, wenn nicht nur vieles, sondern alles am menschlichen Leben von dem abhängt, was sich mit Wissen und insbesondere den Produkten der Wissenschaften erreichen läßt. Aber spricht wirklich soviel für die Annahme mancher Menschen, daß buchstäblich alles - Glück, Erfüllung, Befriedigung, Kunst, Kultur, Fantasie - von wissenschaftlichen Erkenntnissen abhängt oder positiv beeinflusst werden kann? Wenn wir so denken, ist der Sinn, den wir dann dem Wissen und seinen Anwendungen zusprechen, tatsächlich allein den Wissenschaften geschuldet? Um diese Frage nach dem Sinn des Wissens wirklich beantworten zu können, können wir vorbereitend zunächst die Frage beantworten:

Was ist im Allgemeinen der Zweck des Wissens, nachdem wir streben?


Bevor wir etwas über den Zweck des Wissens sagen können, müssen wir provisorisch bestimmen, was Wissens ist. Hier sind wir in der angenehmen Lage, von einer Definition des Wissens ausgehen zu können, die bereits vor über 2000 Jahren von Plato vorgeschlagen worden ist.

Gemäß der Plato-Definition weiß eine andere Person S irgendetwas, nennen wir es p - z.B. das Gras grün ist -, wenn folgendes gilt:
(1.) S glaubt, daß p
(2.) p ist wahr
(3.) S hat gute Gründe dafür, daß p.


Von einem Wissen sprechen wir also dann, wenn es sich um eine wahre und begründete Meinung handelt. Wenn eine Meinung falsch ist oder wenn eine Person ganz zufällig, ohne dies begründen zu können, eine Meinung hat die falsch ist, ist ebenfalls kein Wissen. Daß Gras grün ist, ist wahr. Meine Gründe, die dafür sprechen, daß Gras grün ist, sind einfach: In allen wichtigen Fällen, wo jemand das erblickt, was wir Gras nennen würden, so sieht er oder sie, daß es grün ist. Und sagt man nicht: Sehen heißt wissen? Eine gute und philosophisch achtbare Begründung für eine Meinung ist also eine Wahrnehmung, die viele Leute teilen.


Der platonische Wissensbegriff begünstigt die Wahrheit und die Begründung als die entscheidende Merkmale des Wissens. Nun stellt sich wieder die Frage: Warum? Was ist der Zweck, der von wahren, begründeten Meinungen erfüllt wird - jedoch nicht von falschen und unbegründeten Meinungen? Welcher Zweck ist es, der für uns den Wert des Wissens als wahrer Meinung und damit sogar der Wissenschaft begründet? Nun, ich denke ein Zusammenhang liegt auf der Hand, wenn wir von unserem alltäglichen Umgang mit den Meinungen ausgehen, die wir sicher zu wissen glauben: Wir benötigen wahre Meinungen, die wir verstanden haben und begründen können, um ihnen entsprechend handeln zu können. Lassen Sie mich an dieser Stelle den englischen Philosophen Edward Craig zitieren, der die Gabe hat, solche Dinge in wunderbarer Klarheit zu formulieren:


„Wer handelt, braucht Meinungen, an denen sich sein Handeln orientieren kann. Ich will Honig auf mein Brot streichen. Dazu brauche ich sofort wenigstens drei Meinungen: daß das da Honig ist, daß mein Messer dort liegt, und hier eine Scheibe Brot. ... irgendwelche diesbezüglichen Meinungen muß ich haben, sonst bin ich in der Lage eines Menschen, der etwas will, der aber nicht die geringste Ahnung hat, was er machen soll, damit der Erwerb des fraglichen Gegenstandes auch nur im mindesten wahrscheinlicher wird. ... Da wir zum Handeln Meinungen brauchen, haben wir ein Interesse daran, daß unsere Meinungen wahr sind. ... Wer seine Handlungen an wahren Meinungen orientiert, hat viel bessere Erfolgschancen als der, der nach falschen Meinungen handelt.“ (E. Craig, Was wir wissen können, S. 40f.)


Craig formuliert den letzten Satz sehr vorsichtig. Denn er weiß und im folgenden zeigt er dies auch, daß es sehr wohl manchmal möglich ist, daß unser Handeln auch von falschen Meinungen erfolgreich geleitet wird. Aber das sind eben nur wenige und merkwürdig konstruierte Ausnahmen - etwa wenn z.B. sich zwei falsche Meinungen und die Tatsachen so ergänzen, daß sie sich wechselseitig aufheben. Doch in den überwiegenden Zahl der Fälle sind es nur die wahren Meinungen, die einer oder mehreren Personen ermöglichen, zu handeln.
Denn dies ist ja der soziale Aspekt der Wahrheit und der soziale Charakter des Wissens: Wenn mein Handeln von wahren Überzeugungen ausgeht, so werde ich meistens finden, daß auch andere Menschen diese Überzeugungen teilen können. Ich weiß dann auch, wenn ich ihre Interessen und Zwecke kenne, wie meine Mitmenschen handeln werden. Dies ist insbesondere dann wichtig, wenn wir nur koordiniert und gemeinsam erfolgreich handeln können. David Humes Beispiel für eine solche Handlung sind zwei Leute in einem Ruderboot. Wenn beide sich einig sind, so daß sie in dieselbe Richtung rudern, kommen sie zum Ziel. Rudert jedoch der eine in die eine und der andere in die entgegensetzte Richtung, so kommen sie nicht von der Stelle: Das Boot dreht sich im Kreis. In diesem Beispiel geht es um die Koordination des Handelns und um die Wahrheit des Wissens über die Welt nur in zweiter Linie. Aber damit ich mich auf das Handeln von anderen Menschen einstellen kann, muß ich auch wissen, was mein Gegenüber zu tun beabsichtigt.


Wir haben nun die gewünschte Auskunft über den allgemeinen Zweck des Wissens gefunden. Wir können sehen, warum Wissen und Wissenschaft zu allen oder jedenfalls den meisten Aspekten unseres Lebens und der sozialen und materiellen Umgebung einen handlungsbezogenen Zugang eröffnet. Was wir wissen, können wir uns und anderen verständlich machen, in dem wir es beschreiben. Doch ist keineswegs in jedem Fall dieser Wissenszugang wichtig oder gar entscheidend für den Umgang mit dem Inhalt des Erkannten. Zwar gibt es fast immer etwas, das wir wissen und somit mitteilen können. Aber nicht immer wollen wir handeln oder ist das durch Wissen ermöglichte Handeln, auch wenn es erfolgt, dasjenige, was für uns wichtig ist. In allen Fällen, wo wir nur genießen, träumen, ahnen, spüren, wo wir z.B. etwas oder jemanden bewundern, verehren, anbeten, träumerisch vorstellen oder wo wir einem anderen Menschen gegenüber Anerkennung, Hass, Liebe usw. äußern, ist nicht entscheidend, ob das, was wir wissen, auch wahr ist. Ja, es kann sein, daß wir ganz bewusst die Unwahrheit sagen oder uns von dem lösen, was wir als wahr herausgefunden haben. In Bezug auf die Verhältnisse während der Nazizeit hat der Philosoph Ludwig Marcuse einmal gesagt: „Ist es nicht besser, wenigstens im Denken die Wahrheit furchtbarer Verhältnisse mißachten zu können?“


In anderen Fällen werden wir z.B. durch eine emotionale Äußerung, das erst erzeugen, was wir als Beziehung zu einem anderen Menschen anstreben. Auch ist z.B. ein Bild malen etwas anderes als aufgrund eines Wissens, daß etwas wahr ist, auf bestimmte Weise zu handeln. Wie immer ein Maler zu dem gelangt, was später das fertige Bild sein wird: Es gibt keine wissbare Wahrheit, die er kennen könnte, um sie dann durch Malen einfach in ein Gemälde umzusetzen. Dies letzte Beispiel zeigt aber auch sehr schön die Allgegenwart des Wissens: Natürlich muß auch der Maler, bevor an seiner Leinwand arbeitet eine Menge über Farben, Pinsel, Leinwände, die Geschichte der Malerei wissen. Aber ich kann all das wissen, was der Maler auch weiß, ohne in der Lage zu sein, durch das Umgehen mit Farben, Pinseln, Leinwänden und Ideen aus der Geschichte der Malerei zu einem Bild - schon gar nicht zu demselben Bild - zu gelangen.

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